Als 1698 in Aachen die Forderung aufkam, entgegen den engen Zunftbestimmungen größere Betriebe zuzulassen, protestierten die Scherer mit der Befürchtung, dass in diesem Falle bald "wenige die ganze Arbeit und alle Knechte an sich zögen". Diese Befürchtung war richtig und erfüllte sich auch - aber nicht in Aachen. Denn dort blieb man bei den alten Bestimmungen, was viele aufstrebende Tuchfabrikanten im 18. Jahrhundert verprellte und dazu bewog, ihre Firmensitze in Nachbarorte ohne Zunftzwang zu verlegen: nach Burtscheid (heute ein Stadtteil von Aachen), Monschau, Imgenbroich, Stolberg, Eupen, Vaals oder Verviers. Gänzlich unbeschränkt konnte sich dort nun die Feintuchproduktion für einen größeren Markt entwickeln, die den Aachener Handwerkern bald schwer zu schaffen machte.
Als die Feintuchhersteller begannen, besonders feine Wolle aus Spanien zu importieren und diese zu besonders feinen, teilweise fast seidenartigen Tuchen zu verarbeiten, entwickelte sich rasch eine neue Wirtschaftsstruktur, die bald die ganze Region prägen sollte. Die Tuchverleger beschafften die Wolle, gaben aber die Arbeit des Spinnens und Webens an Heimarbeiter in der Eifel und im Limburger Land ab.
Muster: Monschauer Musterbuch,
zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts
Die arme Landbevölkerung in der Eifel und im Limburger Land war heilsfroh, im Winter, in dem es sonst kaum etwas zu verdienen gab, sich mit der geldbringenden Tuchherstellung beschäftigen zu können. Statt Flachs oder grober Eifelwolle hatte man jetzt feine spanische Merinowolle nach genauen Angaben der Verleger zu verarbeiten. Allerdings waren die kleinen Bauernstuben nicht für die großen Webstühle gebaut, die bis an die niedrige Decke reichten und mit einem Raumbedarf von bis zu 4 m² größer als das Ehebett waren und auch noch den besten Platz am Fenster beanspruchen konnten. Die Arbeitsteilung sah häufig so aus, dass der Mann webte, die Frauen sponnen und die Kette einrichteten und die Kinder spulten. Im Freilichtmuseum in Kommern ist eine Weberstube vollständig eingerichtet und in Aktion zu betrachten.
Das gewebte Tuch kam anschließend zurück zum Verleger, der die Ware prüfte, im Stück bezahlte, eventuell ausbesserte und anschließend die enorm wichtige Appretur unter seiner Aufsicht erledigen ließ. Zur Appretur, zur Schlussbehandlung des Tuches, die über die Feinheit, den Griff, das Erscheinungsbild der Tuches entschied, gehörte das u.a. das Walken in speziellen Walkmühlen, das Pressen, Aufrauhen und anschließende Scheren des Tuches. Vor allem das gefühlvolle Scheren mit riesigen, schweren Scheren spielte eine zentrale Rolle. Einige Tuchmacher beschäftigten allein 50 bis 100 Scherer, die als Fachkräfte zum Teil von weither angeworben wurden und in Monschau und Eupen eine ganz eigene soziale Gruppe von selbstbewussten Lohnarbeitern mit entsprechender Konfliktbereitschaft bildeten.
Die wichtigsten Zentren dieser Tuchmanufaktur waren Vaals, Eupen und Monschau. Die Eupener Tuchmacher konnten mit ihren Produkte in ganz Europa, Rußland, in der Levante und in Ostindien Furore machen und beschäftigten im Jahr 1764 5.070 Arbeiter und um 1812 gar 6.000 Arbeiter! Johann Heinrich Scheibler aus Monschau wies Anfang der 1760 Jahre selbstbewusst darauf hin, dass "alleinig von meiner Farbrique beständig mehr als 4000 Menschen" ernährt werden. Und schließt nicht ganz unbescheiden an: "Wahrlich ein erwünschtes Etablissement in einem Lande, wie das kalt und unfruchtbare Monjoy, wo von dem garnicht beträchtlichen Ackerbau die wenigsten Menschen sich ernähren können und wo in Vorzeiten so starker Geldmangel war, als jetzo davon Überfluss darinnen zu finden ist, auch jedweder Mensch, welcher ohne die Fabriquen den Bettelgang pflegen müsste, ja schon fünf- und sechsjährige Kinder von der allerlei Fabriquearbeiten sich wohl zu ernähren vermögen."
Die Tuchmacher rund um Aachen in entwickelten neue Muster, um neue, überregionale Märkte zu erobern und hatten damit großen Erfolg: Der Johan Heinrich Scheibler begann die Wolle bereits vor der weiteren Verarbeitung zu färben und sie anschließend zu verschiedenartig gemusterten Stoffen mit leuchtenden, fast grellen Farben verarbeiten zu lassen, die sogar dem Geschmack anspruchsvoller Haremsdamen genügen konnten. Bei der Färbung, die eine ganz zentrale Rolle spielte, kam ihm das sehr kalkarme Wasser der Rur entgegen, das wunderbar strahlende Farben ermöglichte. Es hatte sich also in unserer Region auf der Basis der reinen Handarbeit, der Manufaktur und der Heimarbeit eine - was die Rohstoffe und Absatzmärkte betraf - eine wahrlich global agierende neue Branche entwickelt. Die für jenen Zeit sehr großen und ausgesprochen repräsentativen, fast schlossartig anmutenden Firmenzentralen in Monschau, Eupen und Vaals künden bis heute von der herausragenden wirtschaftlichen Bedeutung, die die vorindustrielle Tuchherstellung im Gebiet der heutigen EUREGIO hatte, aber auch von der herausragenden Rolle und dem Reichtum der Tuchfabrikanten. Es ist sicherlich kein Zufall, dass einige dieser Gebäude heute ebenfalls wieder repräsentativen Charakter haben - etwa als Sitz der Regierung der deutsch-belgischen Gemeinschaft in Eupen oder als Rathaus in Vaals.